Der Höckendorfer Flügelaltar zu seinem 500. Jubiläum im Jahr 2015
Der spätgotische Flügelaltar unserer Kirche wurde zwischen 1510 und 1515 von einem Künstler gefertigt, dessen Name bis heute noch nicht bekannt ist. Die meisten Fertigkeiten seines Handwerkes muss er wohl in süddeutschen Raum an der Donau erworben haben. Aber auch eine Verbindung zur Werkstatt von Philipp Koch oder dessen Schüler in Freiberg ist unübersehbar. Möglicherweise wurden von ihm auch die Altaraufsätze von Dohna, Erlau, Ruppendorf, Blankenstein und Geising hergestellt. Die beiden Letztgenannten verbrannten 1945 im Museum des Dresdner Altertumsvereins. Auf einer noch vorhandenen Rechnung wird er als "Maler" bezeichnet. Er arbeitete aber offenbar auch zugleich als Holzbildhauer bzw. Schnitzer.
Die Höckendorfer Kirche wurde schon um das Jahr 1200 errichtet.
Im Saal der Kirche ist noch der romanische Aufbau mit Rundbogenfries zu erkennen, auch wenn Türen, Fenster und Decke völlig verändert wurden. Dieser Teil der Kirche zeugt von der
frühen Besiedlung unseres kleinen Tales am Erzgebirgshang. Landlose Bauern, vorrangig aus Franken und Thüringen, konnten hier höher gelegene Flächen begünstigt urbar machen. Es wurde das typische
Waldhufendorf mit einer Kirche in der Mitte angelegt. Den prächtigen Altaraufsatz erhielt aber diese Kirche erst drei Jahrhunderte später.
Die Entwicklung unseres Ortes im Mittelalter verdanken wir den Edlen von Theler, einem
ursprünglich Freiberger Patriziergeschlecht, denen das Rittergut Höckendorf als Markgraflehn anvertraut war. Conrad von Theler († 1361) erlangte besonderen Reichtum durch den Bergbau in der Zeche
Edle Krone, deren Erschließung ab dem Jahr 1330 begann. Caspar von Theler († 1515) stiftete in seinen letzten Lebensjahren unseren Altaraufsatz. Das Leben und Hoffen war damals noch vom
mittelalterlichen Weltbild geprägt. Einen Altar zu stiften war damals auch eine sichere Investition für die Verkürzung des Fegefeuers. Der Altaraufsatz hatte übrigens den Wert vom mehrfachen
Jahresverdienst eines wohlhabenden Bürgers einer mittelalterlichen Stadt. Über die Gestaltung dieses Altars wird der Stifter vermutlich mit dem damaligen Pfarrer
entschieden haben. Sicher hat aber auch der Künstler, der damals noch als reiner (namenloser) Handwerker auftrat, mit seinen Vorschlägen, Zeichnungen und Referenzwerken Einfluss
nehmen können.
Zwischen 1480 und 1525 wurden im Bereich des heutigen Deutschlands ca. 50.000 Flügelaltäre gefertigt und zum großen Teil in Kirchen und Kapellen aufgestellt. Es ist
das hervorragende komplexe Kunstwerk dieser Epoche.
Der Flügelaltar war seiner Zeit voraus. Denn wie ein Film erzählt er Geschichten in einer Abfolge von Bildketten. Dabei benutzt er
nicht nur die zwei-, sondern auch schon die dreidimensionale Abbildung. Er weist auf eine unübersehbare Mitte, den Schrein. Dieser wirkt wie ein geöffnetes Fenster zum Himmel. Darin
befinden sich die Heiligen, die dem gläubigen Betrachter strahlend entgegentreten. Sie verkörperten die "Rundumversicherung" für den mittelalterlichen Menschen. Die in ihnen oder unter ihnen
befindlichen Reliquien belegten den Schutz materiell. Welche Wirkung wird ein solcher Altaraufsatz auf die Menschen der damaligen Zeit wohl gehabt haben! Wir können es heute wohl kaum noch
erahnen.
Ist unser Altar geöffnet, fällt auch heute
noch der Schrein als erstes in den Blick. Fünf aus Holz geschnitzte Heiligengestalten haben etwas anzubieten (von links nach rechts): Petrus wird mit Schlüssel dargestellt. Katharina hält mit
ihrer Rechten ein Schwert und der Linken ein Buch. Maria Magdalena trägt ein Salbgefäß und dessen Deckel in den Händen. Johannes der Täufer weist auf Gottes Lamm, das er mit der Schrift
präsentiert. Paulus trägt das Schwert. Die Unbekannteste unter den Fünfen wird wohl heute für uns die heilige Katharina sein. Katharina von Alexandria ist der Legende nach eine außerordentlich
gebildete Frau aus königlichem Hause, die durch ihre Gelehrsamkeit vor allem das Herz der gebildeten Menschen für den christlichen Glauben öffnen konnte.
Auf den Flügeln befindet sich Holzschnitzerei zum Leben der Maria bzw. zur
Kindheit Jesu: die Verkündigung der Geburt (links oben), Maria und Elisabeth / die Heimsuchung (links unten), die Anbetung der Weisen (rechts oben) und Reinigung der Maria / Jesu Darstellung im
Tempel (rechts unten). Alle Szenen lohnt es in ihren Einzelheiten und mit den dazugehörenden Bibelstellen zu betrachten.
Über dem Schrein erhebt sich bis dicht ans Gewölbe die Bekrönung des Altaraufsatzes. Sie ist noch einmal in zwei Stockwerke gegliedert. Den meisten Raum bekommt in ihr dieselbe Heilige, welche schon in der Mitte des Schreins zu finden ist: Maria Magdalena. Allerdings wird sie hier in einem Fell gekleidet dargestellt und von sieben Engeln in den Himmel emporgehoben. Die Himmelfahrt der Maria Magdalena ist Teil einer mittelalterlichen Heiligenlegende. Dieser Legende nach lebte Maria Magdalena zuletzt 30 Jahre lang als Eremitin in einer Höhle. Dort konnte sie auf alles, auch auf Bekleidung und Nahrung, verzichten und lebte davon, dass sie Gottes Angesicht schauen konnte, da sie von den Engel täglich emporgehoben wurde.
Maria Magdalena ist auf dem Höckendorfer Altaraufsatz die zentrale Heilige, die Patronin des Altars und wohl auch einst die Patronin der Höckendorfer Kirche. Maria Magdalena, eine zur Büßerin bekehrte Sünderin, galt im Mittelalter unter anderem als Sterbepatronin vor einem jähen Tod (ohne Sterbesakrament). Dadurch wurde sie wie die heilige Barbara auch zur Schutzheiligen der Bergleute. Die Stiftung des Altars steht in enger Beziehung zum Bergbau.
Links von Maria Magdalena wird in der Bekrönung der Heilige Christophorus mit Stab in der Linken und Christus auf der linken Schulter dargestellt. Er gilt aufgrund der zu ihm gehörigen Legende nicht nur als Schutzpatron der Reisenden, sondern wiederum im Bergbau auch als ein Heiliger, der in Bezug auf Wassereinbrüche helfen kann. Rechts neben Maria Magdalena steht der heilige Georg auf dem von ihm besiegten Drachen mit der Lanze in beiden Händen. Der Heilige Georg galt damals als der Schutzpatron der Kreuzfahrer und Ritter, wohl auch als Viehpatron und ist vermutlich aus diesen Gründen dem Altaraufsatz zugeordnet worden. An der höchsten Stelle des Gesprenges thront die Madonna, Maria mit dem Jesuskind.
Während die Figuren in der Bekrönung des Altaraufsatzes die originalen geblieben sind, wurde das Gesprenge ringsherum erneuert. Als unsere Kirche von 1905 bis 1907 im Inneren eine Neufassung im Jugendstil erhielt, wurde der Altar mit seinem prächtigen Aufsatz ins Ensemble integriert. Nur das strenge spätgotische Gesprenge der Bekrönung, was besonders schadhaft gewesen sein soll, passte man dem neu geschaffenen üppigen Rankenwerk der Passionsblumen im Chorgewölbe an. Die Madonna erhielt auf ihrem hohen Platz eine "evangelischen Einordnung" - unter dem Kreuz. Ansonsten haben wir heute noch unseren Altar so vor Augen, wie auch damals die Menschen vor 500 Jahren.
An Bußtagen und in Bußzeiten wie Passion und Advent wird der Altar geschlossen. Die geschlossenen Flügel bedecken den Schrein.
Dabei erscheinen auf der Rückseite der Flügel vier Tafelbilder und auf den beiden feststehenden, sogenannten blinden Flügeln jeweils ein Bild. Alle Bilder beherrscht das eine Thema: der
Leidensweg Jesu Christi.
Die Bildfolge in der Mitte wird von zwei großen Personen auf den geschwungenen blinden Flügeln gerahmt. Rechts ist Christus als
„der Schmerzensmann“ mit der Dornenkrone dargestellt. Ungewöhnlich ist auf diesem Bild, dass er auch als ein mit Kette und Halsring gefesselter Mensch gezeigt wird, der sich gegen das Leid und
die Gebundenheit wehrt. Solch eine Darstellung gibt es in Sachsen nur noch ein weiteres Mal in der Kirche zu Gersdorf. Auf der anderen Seite ist Maria, die „Schmerzensmutter“ zu sehen. Nach Lukas
2,35 wird sie als eine Frau dargestellt, durch deren Seele angesichts des Leidens ihres Sohnes ein Schwert dringt. Sowohl Maria als auch Christus bitten um Gottes Erbarmen. Bilder des
„Schmerzensmannes“ und der „Schmerzensfrau“ dienten der persönlichen Andacht, zur Vertiefung in das Leiden Christi und das Mitleiden der Gottesmutter. Diese Figuren nehmen räumlich auf unserem
Altar den größten Platz ein.
In der Mitte, direkt vor dem Heiligenschrein, wird mit vier Tafelbildern in Folge an das Leiden Christi erinnert, also an das, was
unserem Heil und unserer Heiligung vorausgeht. Links oben beginnt die Szene mit Christus, der im Garten Gethsemane in blutendem Schweiß mit seinem himmlischen Vater im Gebet ringt, während seine
Jünger in den Schlaf fallen. Bemerkenswert ist die schwebende Haltung des betenden Christus und der Gewandzipfel, der bereits auf Petrus deutet. Die Szene setzt sich links unten mit der Geißelung
Christi fort. Rechts oben folgt dann die Dornenkörung und Verspottung. Mit diesem Bild soll wohl zugleich auch dargestellt werden, dass Christus die Last der menschlichen Sünde auf sich nimmt.
Den Abschluss bildet rechts die Kreuztragung, bei der Jesus durch Simon von Kyrene unterstützt wird. Betrachtet man das erste und das letzte Bild dieser Folge aus der Nähe, so fällt auf, dass die
Landschaft im Hintergrund eher dem Alpen als dem Erzgebirgsvorland entspricht. Auch das könnte ein Hinweis auf die Biographie des Malers sein.
In der Staffel bzw. Predella des Altaraufsatzes haben wir eine besondere Zusammenstellung von biblischer Heilsgeschichte und Legende. Die einzelnen Geschichten sind im Relief dargestellt und durch damals modernste florale Elemente meisterhaft zu einer Dreiergruppe verbunden. Der Geburt Jesu in der Herberge zu Bethlehem im linken Bild folgt in der Mitte die Auferstehung Christi. Die Soldaten als Hüter der Macht am Grab Christi verharren fassungslos mitten im wahrhaft mächtigen Geschehen. Das rechte Bild gibt Ausschnitte aus einer mittelalterlichen Legende wider, wonach die Apostel Jesu zum Sterbebett von Maria, der Mutter Jesu, geführt werden. Christus soll von dort aus ihre Seele in den Himmel gehoben haben. Gerade dieses letzte Bild wirft Fragen auf: Was symbolisieren die Kerzen, die die Apostel zu Marias Sterbebett mitbringen und mit ihr gemeinsam halten? Den Glauben? Das Licht der Auferstehung? Was befindet sich in dem Gefäß, das dem Betrachter so deutlich gezeigt wird? Was bedeuten die auf- und/oder zugeschlagenen Bücher in den Händen der Apostel? Dürfen wir annehmen, dass in der Folge dieser drei Bilder ein grundlegendes Zeugnis unseres Altars steckt: Gott ist mit Christus in unsere Welt gekommen und hat sie von der Macht des Bösen und der Macht des Todes befreit?
Der Kunstführer zum Retabel
Zum Höckendorfer Altarretabel wurde im Jahr 2023 vom Verlag Schnell & Steiner (www.schnell-und-steiner.de) ein Kleiner Kunstführer hergestellt. Als Autor dafür konnte der Kunsthistoriker Herr Dr. Markus Hörsch gewonnen werden. Die fotografischen Arbeiten übernahm dafür Herr Peter Eberts aus Bamberg. Es ist die erste eigenständige größere Publikation zu diesem Retabel, die auch neuste Erkenntnisse zur Entstehung des Werkes liefert.
Das Regionalmanagement „Silbernes Erzgebirge“ hat uns für diese Arbeit aus seinem "Regionalbudget im ländlichen Raum" als Kleinprojekte eine Förderung zugesagt mit Mitteln aus der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes (GAK)“ durch die Bundesrepublik Deutschland und mit Steuermitteln auf Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.
Wir freuen uns sehr über diesen Kleiner Kunstführer, den wir Ende April 2024 mit einer besonderen Veranstaltung der Gemeinde und weiteren Interessierten präsentieren wollen.
Gefördert durch: